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Kulturelle Konflikte, die sich im Grad des Ausleben-Könnens individueller Bestrebungen widerspiegeln, sind bei den Jugendlichen aus orientalischen Migrantenfamilien im Aufnahmeland Deutschland stärker präsent als in Migrantenfamilien aus ähnlichen Kulturkreisen. Dieser Ansicht ist die Literatur verhaftet und die meisten Studien untermauern die zunächst subjektive Beobachtung. Einige Studien zeigen jedoch ein anderes Bild, sodass sich insgesamt eine inhomogene Betrachtungsweise ergibt. Es stellt sich die Frage nach dem Einfluss, den orientalisch geprägte Eltern auf die soziale Integration ihrer jugendlichen Kinder in Deutschland nehmen und welche Auswirkungen die Sicht- und Erziehungsweisen der Eltern auf das Erleben der Jugendlichen haben. In der vorliegenden Studie wird daher die Sozialisation von Jugendlichen der Zweiten Generation orientalischer Migrationsfamilien vor dem Hintergrund ihrer erhöhten kulturellen Divergenz zum Aufnahmeland untersucht.
Methodik: Zugrunde liegen empirische Daten, die von April bis November 2011 in Berliner Familien orientalischer Herkunft mit Jugendlichen zwischen 13 und 18 Jahren erhoben wurden. Diese Daten wurden durch Daten aus der Literatur ergänzt und diesen gegenübergestellt. Um kulturelle Unterschiede sichtbar zu machen und die Sozialisation vor deren Hintergrund untersuchen zu können, wurden drei Gruppen relativ kultur-homogener Zusammensetzung gebildet: Jugendliche aus Nahost, Nordafrika und der Türkei.
Ergebnisse und Diskussion: Die in dieser Studie untersuchten Aspekte der Sozialintegration umfassen die Auswirkungen elterlicher Einflussnahme auf Schulerfolg, Spracherwerb und kompetenz, inner- und außerethnische Freundschaften, Partnerwahl, Sexualität ,Zugehörigkeitsgefühl , und Rollenbild der Jugendlichen genderspezifisch sowie gesamt.
Der Einfluss elterlicher Bildungsaspiration ist eher gering. Wesentlich wichtiger ist die Einstellung der Eltern zur Erziehung in der Schule: Je positiver die Eltern eingestellt sind, desto höher ist der Schulerfolg der Jugendlichen.
Der Spracherwerb der Jugendlichen ist einer der entscheidenden Faktoren für den Schul- und Berufserfolg. Die familiäre Nutzung der deutschen Sprache kann den Jugendlichen bei ihrem Spracherwerb helfen. Eine ausschließliche Nutzung der Muttersprache innerhalb der Familie ist kein Negativ-Kriterium für die Qualität des Spracherwerbs; diese wird in höherem Maße von den muttersprachlichen Fähigkeiten beeinflusst. Wenn die Kompetenzen in der Muttersprache hoch sind, ist die Qualität im Erwerb der deutschen Sprache höher als bei geringen muttersprachlichen Kompetenzen. Der innerfamiliäre Sprachgebrauch korreliert mit dem Zugehörigkeitsgefühl der Jugendlichen aus Nahost und Nordafrika: Je mehr Deutsch gesprochen wird, desto stärker fühlen sich die Jugendlichen dem Aufnahmeland zugehörig. Es bleibt jedoch unklar, ob der Sprachgebrauch Ursache oder Wirkung ist.
Die Suche nach Freunden und Ehepartnern präsentiert sich in allen Gruppen stets ausgeprägt im innerethnischen Gefüge, wenn die Eltern starken Familiensinn/kollektivistische Einstellungen vermitteln. Die jüngeren Mitglieder zeigen jedoch zunehmend Aufbrüche der ethnozentrischen Orientierung zugunsten von Freundschaften und Ehepartnern aus dem Aufnahmeland. Der wesentliche Faktor für die Partnerwahl ist vor allem Loyalität der Familie gegenüber. Insbesondere die Jungen wünschen sich eine Partnerin mit gleicher Religionszugehörigkeit, die Mädchen wünschen sich vor allem einen Partner, mit dem die Eltern einverstanden sind. Liebe und emotionale Bindung, in Deutschland die wesentlichen Kriterien der Partnerwahl, spielen bei den befragten orientalischen Migranten eher eine geringe Rolle.
Sprechen die Eltern oft und offen mit ihren Jugendlichen über Sexualität, zeigen sich auch die Jugendlichen offener und aufgeschlossener. Welche Meinung die Eltern dabei vertreten, ist unerheblich, solange sie eine Meinung äußern. Die Jugendlichen übernehmen die traditionellen Rollenbilder mit stark geschlechterspezifisch geteilter Erziehungs- und Haushaltsarbeit in geringerem Ausmaß als dies von den Eltern vorgelebt wird. Vor allem die Jungen und in tendenziell auch immer stärkerem Maße die Mädchen nehmen von den als überholt empfundenen Vorstellungen der Eltern zunehmend Abstand.
Die Gruppe türkischer Jugendlicher bildet die größte in Deutschland und häufig werden in Studien die Verhaltensweisen orientalischer Jugendlicher mit denen türkischer Jugendlicher gleichgesetzt. Dieser Sichtweise kann anhand der Ergebnislage in der vorliegenden Studie nicht entsprochen werden: Die Sozialisationsprozesse der türkischen Migranten unterscheiden sich in den meisten Fällen erheblich und in einigen Fällen sogar höchst signifikant von denen der Migranten aus Nahost und Nordafrika. Unterschiede zwischen den Gruppen betreffen insbesondere die Bereiche Sprache, soziale Kontakte, Einstellungen zu Geschlechterrollen und,Partnerschaft mit Deutschen und Zugehörigkeitsgefühl. Die türkischen Migranten nutzen die deutsche Sprache seltener und häufig oberflächlicher. Ihre Kenntnisse der Muttersprache schätzen sie dennoch meist besser ein als die Angehörigen der Zweiten Generation von Zuwanderern aus Nahost oder Nordafrika. Türkische Migranten suchen zudem den Kontakt eher zu ihrer eigenen Kulturgruppe.
Die aktuellen Flüchtlingsströme aus dem Nahen Osten und Nordafrika bedingen eine wesentlich stärkere Differenzierung. Eine Verallgemeinerung ist unzulässig und nivelliert etwaige Unterschiede, was in der Ergebnisinterpretation zu Schlussfolgerungen und Empfehlungen führen kann, die denen der Realität nicht entsprechen und einer Integration entgegenstehen können.
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