Hintergrund und Zielsetzung: Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe schätzt die Zahl wohnungsloser Menschen in Deutschland auf etwa 250.000. In Berlin leben geschätzt 10.000 wohnungslose Menschen. Die Gesundheit von Menschen, die ohne festen Wohnsitz und in Armut leben, ist besonders gefährdet. Diese Menschen haben zudem einen sehr begrenzten Zugang zur medizinischen Versorgung. Obwohl Wohnungslosigkeit von der Weltgesundheitsorganisation als eigene Diagnose in die internationale Klassifikation der Krankheiten aufgenommen wurde, gibt es in Deutschland nur wenige, in Berlin gar keine medizinisch-wissenschaftlichen Untersuchungen über Wohnungslose. Zielsetzung der vorliegenden Arbeit ist daher die Untersuchung der soziodemographischen Charakteristika und medizinischen Parameter aller Patienten des interdisziplinären Gesundheitszentrums für Obdachlose der Jenny De la Torre Stiftung in Berlin-Mitte. Methodik: Es handelt sich bei dieser Untersuchung um eine Querschnittsstudie mit retrospektiver Auswertung von standardisiert erhobenen Patientendaten. Eingeschlossen wurden alle wohnungslosen Patienten bei Erstkontakt mit dem Gesundheitszentrum für Obdachlose in Berlin-Mitte. Der Untersuchungszeitraum begann im September 2006 (Eröffnung des Gesundheitszentrums) und endete im April 2008. Zu den erhobenen soziodemographischen Parametern gehörten auch Angaben zum Krankenversicherungsstatus, zu Übernachtungsstellen und Zeitraum der Wohnungslosigkeit. Weiterhin erhoben wurden medizinische Parameter: Angaben zum letzten Arztbesuch, somatische und psychische Vorerkrankungen, insbesondere Sucht, Gründe für den Besuch im Gesundheitszentrum, sowie ärztliche Diagnosen bei Erstkontakt. Neben deskriptiven statistischen Analysen der soziodemographischen und medizinischen Parameter erfolgten geschlechtsspezifische Gruppenvergleiche bezüglich Übernachtungsstellen, Alter- und Familienstand, sowie der Vergleich des Diagnosespektrums von Kurzzeit- und Langzeitwohnungslosen (bis 6 Monate versus > 6 Monate). Ergebnisse: Eingeschlossen wurden die Daten von 440 obdachlosen Patienten, davon waren 81% männlich (Altersmittelwert 43,5 ± 12,9 Jahre) und 19% weiblich (37,2 ± 12,8 Jahre). 50% der Patienten waren beim Erstkontakt mit dem Gesundheitszentrum höchstens sechs Monate wohnungslos. 62% der Patienten gaben an, ledig zu sein, ein Fünftel der Patienten war geschieden. Von den 39% der Patienten, die angaben Kinder zu haben, hatte die Hälfte zwei oder mehr Kinder. 36% hatten eine Krankenversicherung, 31% der Patienten bezogen Sozialhilfe. Von allen Patienten waren 26% ausländischer Herkunft, sie kamen vor allem aus Polen und anderen mittel- und osteuropäischen Ländern. 71% hatten die Schule abgeschlossen, davon hatten 47% einen Hauptschulabschluss, 54% einen mittleren oder höheren Schulabschluss, ausländische Patienten hatten häufiger als Deutsche den höchsten Schulabschluss erreicht. 59% der Frauen und 36% der Männer übernachteten in Sozialeinrichtungen. 43% der Patienten hatte in den letzten zehn Jahren keinen Arzt aufgesucht, jedoch hatten 29% innerhalb des vergangen Quartals einen Arzt aufgesucht. Von den Patienten des Gesundheitszentrums waren 58% nikotin- und 43% alkoholabhängig. Die Betroffenen litten akut vor allem an infektiösen und parasitären Krankheiten (16%), Verletzungen (15%), Erkrankungen der Atemwege (14%) sowie Krankheiten der Haut (9%). Bei 7% der Behandlungsdiagnosen wurde entsprechend der internationalen Klassifikation der Krankheiten ausschließlich Obdachlosigkeit (ICD-10 Z.59) diagnostiziert. Kurzzeitwohnungslose, die weniger als sechs Monate wohnungslos waren, litten bei Erstkontakt signifikant häufiger an Atemwegserkrankungen als Langzeitwohnungslose. Als Vorerkrankungen wurden am häufigsten psychische (28%), Atemwegs- (21%) und infektiöse Erkrankungen (20%) angegeben. Schlussfolgerungen: Die vorliegende Studie ist die umfangreichste sozialmedizinische Untersuchung zur ambulanten medizinischen Versorgung Obdachloser in Deutschland. Das Spektrum der Erkrankungen der Patienten in der vorliegenden Studie ergab ein heterogenes Bild aus somatischen und psychischen Krankheiten, die in vielen Fällen mit der Wohnungslosigkeit assoziiert sein dürften. Sie verwiesen darauf, dass eine Verbesserung der ärztlichen Versorgung in gezielten niedrigschwelligen Angeboten dringend erforderlich ist, insbesondere für Kurzzeitwohnungslose (≤ 6 Monate), die die Hälfte der Patienten des Berliner Gesundheitszentrums ausmachten. Zudem bestand eine große Diskrepanz zwischen dem gesetzlichen Anspruch auf Krankenversicherungsschutz und Sozialhilfeleistungen und der Versorgungsrealität Obdachloser. Mögliche Barrieren für den Zugang zu diesen Versicherungs- und Sozialleistungen sollten insbesondere auch durch qualitative Studien weiter erforscht werden, um sie beseitigen oder zumindest reduzieren zu können. Das Thema Wohnungslosigkeit und Gesundheit ist in seiner sozialmedizinischen Brisanz bisher vom deutschen Gesundheitswesen nicht ausreichend erkannt worden. Die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit können dazu beitragen, adäquater auf die psychosozialen und medizinischen Bedürfnisse Obdachloser zu reagieren. Sie dienen als Grundlage für weitere geschlechtsspezifische Forschung, insbesondere Langzeitstudien, zur Versorgungssituation aber auch zur Entwicklung gezielter präventiver Strategien.
Homelessness is an extreme form of poverty. Individuals and communities affected by this social problem face many consequences for their health. The number of homeless people in Germany is estimated to be 250,000 people, in Berlin approximately 10,000 people. Homeless people face high rates of illness, disability and numerous barriers to health care. No systematic large- scale documentation and analysis of homelessness and associated health problems has been conducted in Germany. We examined social and medical data of people affected by homelessness to gain a better understanding of their health and associated problems and especially to contribute a discussion on their specific needs. Material and Methods Retrospective analysis of patient data from initial time visits to a specialist Healthcare centre for homeless people in Berlin over a 20 months period. Patient’s history and symptoms were documented by standardized questionnaire during consultation. Results Data of 440 patients were included in the study; including 81 % men (mean age 43.5 ± 13 years) and 19% women (mean age 37.2 ± 12.8 years). 50% of patients lived less than 6 months on the street, before they had their first consultation. 62% of patients reported being single, one-fifth of the patients were divorced. 39% of the patients had children; half of them had two or more children. The percentage of health-insured is 36%, 31% of patients received social assistance. The share of non-German nationals was about 26%; the majority came from Poland and other Central and Eastern European countries. 71% had graduated from school, whereas 47% of them had a secondary school, 54% had a middle or high school diplomas. 59% of women and 36% of the men stayed overnight in social services. 43% of patients had visited no doctor in the last ten years; however 29% had visited a doctor within the past quarter. Abuse of nicotine was diagnosed in 58% and alcohol in 43% of the patients. The most frequent acute diseases were infectious and parasitological diseases (17%), traumata (15%), respiratory complaints (14%) and dermatological complaints (9%). In 7% of treatment diagnoses exclusively homelessness (ICD-10 Z.59) were diagnosed according to the International Classification of Diseases. Short-term homeless people, who were homeless for less than six months, suffered significantly more often from respiratory diseases as a long- term homeless. As the most common previous illnesses mental health (28%), respiratory (21%) and infectious diseases (20%) were indicated. Conclusion The acute problems of the patients are a heterogeneous mixture of somatic and psychological needs as well as social needs. The results suggest that especially short-term homeless (< 6 months) are using the service of the health care centre. The results of this study health contribute to a better understanding of homeless peoples health needs and will enable health specialist care providers to better serve homeless adults. This study is the largest systematically data collection of homeless peoples health in Germany and establishes a basis for further longitudinal analysis on effectiveness of medical and psychosocial ambulatory care for homeless people.