Diese Arbeit behandelt Anpassungsprobleme der Versorgungsstrukturen des deutschen Gesundheitssystems an sich wandelnde Anforderungen durch die zunehmende Häufigkeit von chronischen Erkrankungen. Mit der gewählten empirischen Problemstellung wird der Blick darauf gelenkt, dass ordnungspolitische Dynamik nicht immer zu dem erwünschten Wandel auf der Mikroebene eines Systems oder Teilsystem führen muss. Damit stellt sich die Frage, wie sich institutionelle Beharrung und Wandel insbesondere in komplexen gesellschaftlichen und politischen Systemen konzeptualisieren lassen. Dazu werden theoretische Ansätze betrachtet, die sich den folgenden drei Ebenen zuordnen lassen: Pfadabhängigkeit auf der Ebene des Gesamtsystems [Makroebene], institutionelle Logiken in spezifischen Feldern [Mesoebene] sowie soziale Praktiken und Ressourcen [Mikroebene]. Während diese Ansätze häufig getrennt voneinander diskutiert werden und in jedem Ansatz die jeweils anderen Analyseebenen meistens ausgeblendet werden, werden sie in dem gespannten Forschungsrahmen dieser Arbeit zusammen geführt. Am empirischen Fall der Versorgung von Diabetikern (Typ 2) [T2D] in Deutschland können Beobachtungen gemacht werden, welche die erforderlichen Anpassungsmaßnahmen verdeutlichen, ordnungspolitische Aktivitäten der Vergangenheit kenntlich machen und den Stand der Anpassungsleistung an die Bedürfnisse von Patienten mit T2D im deutschen Gesundheitssystem erkennen lassen. Am Beispiel dieses paradigmatischen Bereichs der Behandlung chronisch Kranker wird dargelegt, dass in einzelnen Feldern der Gesundheitsversorgung durchaus Prozesse des institutionellen Wandels bei gleichzeitig hoher Beharrungstendenz des Gesamtsystems zu beobachten sind. Diese Untersuchung ist als dynamische Mehrebenenanalyse von ärztlichen Praktiken der Mikroebene unter dem Einfluss des strukturellen Wandels der Versorgung von T2D-Patienten angelegt. Die dafür zur Verfügung stehenden Ereignisdaten [©Disease Analyzer, IMS Health] zu Patientenkonsultationen bilden die Jahre 1993 bis 2009 ab und werden sowohl zusammengefasst als auch periodenspezifisch analysiert. Konkretisiert wird die Versorgung von T2D-Patienten anhand ärztlicher Behandlungspraktiken, die auf der Mikroebene des Versorgungsystems zu verorten sind, dabei aber von ihren jeweiligen organisatorischen Kontexten [Mesoebene] und den jeweils geltenden institutionellen Regeln der Makroebene beeinflusst werden. Dabei müssten sich diese Behandlungspraktiken teilweise von ihrer inhärent biomedizinischen Logik entkoppeln, um die Versorgung den Bedarfen der chronisch Kranken anpassen zu können. Mit der ärztlichen Praktik der Mikroebene wurde in den Überlegungen zum theoretischen Forschungsrahmen eine Quelle für Beharrung oder Wandel der Anpassung der Strukturen der Gesundheitsversorgung an die Bedürfnisse chronisch Kranker identifiziert. Die mikrofundierte Pfadöffnung stellt sich als sehr mühevoller und zäher Prozess dar, ist aber unter bestimmten kontextualen Bedingungen möglich. Die Untersuchungsergebnisse haben gezeigt, dass sich die Ausgangsbedingungen in der Situation der Erstdiagnose eines T2D im Zeitverlauf zunehmend günstiger ausgestalten. Die Langzeitblutzuckerwerte der Patienten, die zum Startzeitpunkt des T2D vorlagen, liegen im zeitlichen Verlauf zunehmend in einem Bereich, der einen nicht-medikamentösen Behandlungsstart ermöglichen würde. Der allgemein ansteigende Trend der frühen Verordnung eines Antidiabetikums bei T2D im Zeitverlauf zwischen 1993 und 2009 lässt trotzdem insgesamt auf eine ansteigende biomedizinische Orientierung in der ärztlichen Entscheidungspraktik schließen. Gleichzeitig unterstützen die Untersuchungsergebnisse die getroffene Annahme, dass ein durch Disease- Management-Programme gestalteter Behandlungskontext sowie die Behandlung bei einem auf T2D spezialisierten Arzt unter bestimmten Bedingungen langfristig zur Öffnung des Pfades der dominierenden Logik der Biomedizin führen könnten. Somit lässt sich Pfadöffnung zeigen, wenn man neben dem institutionell pfadabhängig geformten ‚Handlungsgerüst‘ der ärztlichen Akteure auf die Bedeutung von negativ verstärkenden Mechanismen verweist. Diese werden beobachtbar, wenn bei der Untersuchung von institutionellen Prozessen eine Mehrebenen-Perspektive eingenommen wird. Das Pfadabhängigkeitskonzept könnte auf diese Art und Weise an Erklärungskraft gewinnen, wenn die institutionellen Prozessen inhärente ‚situative Kontingenz‘ in die theoretischen Überlegungen und empirischen Beobachtungen miteinbezogen wird.
This dissertation deals with adaptation problems of supply structures within the German health care system due to changing requirements by increasing incidence of chronic diseases. The chosen empirical problem is focused on the fact that regulatory dynamics do not lead to the desired change at a micro level of a system or subsystem in any case. This raises the question how institutional inertia and change can be conceptualized in complex social and political systems. The following theoretical approaches are considered and can be divided into the following three levels: Path dependence at the level of the overall system [macro level], institutional logics in specific fields [meso level], and social practices and resources [micro level]. While these approaches are often discussed separately and, in any approach to the other levels of analysis are hidden, these approaches are integrated in this research. On the empirical case of treatment of diabetes (type 2) [T2D] in Germany, observations are made that convey the necessary adaptation processes, and demonstrate the regulatory activities of the past, and also illustrate the state of successful adaptation to the needs of T2D-patients. By referring on such a paradigmatic area of chronic disease management, this case shows how in some areas of health care certain processes of institutional change can be observed with a parallel high tendency to persistence on the micro-level. This study is designed as a dynamic multi-level analysis of medical treatment practices that depend on structural transformation of the supply of T2D patients. Quantitative ‘event data’ [©Disease Analyzer, IMS Health] are available for 1993 to 2009 and display the history of patient consultations. The medical treatment practices are located at the micro level of the supply system and are influenced both by their specific organizational contexts [meso level] and institutional rules of the macro level. For adapting treatment to the needs of the chronically ill, the treatment practices have to be partially decoupled from it's inherent biomedical logic. Within the research framing, medical practice at the micro-level is identified as a source both persistence, and change for the adjustment of the structures of health care to the needs of chronically ill patients. The micro-founded path opening presents itself as very painstaking and tough process, nevertheless possible under certain contextual conditions. As one result of this research, initial conditions for patients are more and more advantageous over time. Actually, increasing patient groups with an admissible blood sugar value for a non- medical treatment would usually correlate with a decreasing rate of early prescriptions of oral antidiabetic drugs. The generally rising trend of early prescriptions in T2D from 1993 to 2009 implies an increasing biomedical orientation in medical practice decision. Simultaneously, the findings support the assumption that a treatment context framed by disease management programs, or treatment by specialized doctors can lead to a path opening regarding the dominant logic of biomedicine. Hence path opening can be shown if negatively reinforcing mechanisms are considered in addition to the institutional path- dependent constraining structures that shape physician acting. These kinds of mechanisms are observable for focused institutional processes if a multilevel perspective is taken. This way, the concept of path dependence could be obtained if ‘situational contingency’, inherent in all institutional processes, is involved in theoretical considerations and empirical observations.