Migräne tritt bei Frauen zwei- bis dreimal häufiger auf als bei Männern. Zudem sind Migräneattacken bei Frauen länger und schwerer, was insgesamt zu einer stärkeren Beeinträchtigung im Vergleich zu Männern führt. Die Ursachen für solche geschlechtsabhängigen Unterschiede sind vielschichtig und betreffen sowohl psychosoziale als auch biologische Aspekte. Ein tiefergehendes Verständnis geschlechtsabhängiger Mechanismen ist notwendig, um die Versorgung von Migränepatient:innen zu verbessern, spezifische therapeutische Ansätze zu entwickeln und die Lebensqualität der Betroffenen zu steigern. Die in dieser Habilitationsschrift vorgestellten Studien tragen dazu bei, wichtige geschlechtsspezifische Aspekte in der Pathophysiologie, Diagnostik, Behandlung und sozialer Wahrnehmung von Migräne zu charakterisieren. Ein zentrales Neuropeptid in der Migränepathophysiologie ist Calcitonin Gene-Related Peptid (CGRP). In einer prospektiven Kohortenstudie konnten wir erstmalig unterschiedliche CGRP-Konzentrationen bei Frauen mit Migräne und gesunden Kontrollprobandinnen, basierend auf ihren Sexualhormonprofilen, nachweisen. Höhere perimenstruelle CGRP-Konzentrationen bei Migränepatientinnen im Vergleich zu gesunden Frauen weisen auf eine verstärkte perimenstruelle Freisetzung von CGRP hin. Diese Ergebnisse bieten somit eine mögliche pathophysiologische Erklärung für die erhöhte Anfälligkeit für Migräneattacken in dieser Zyklusphase. CGRP spielt auch in der Pathophysiologie der Endometriose, einer häufigen Komorbidität bei Frauen mit Migräne, eine bedeutende Rolle. In einer weiteren Kohortenstudie konnten wir die Hypothese einer hormonbedingten Fehlregulation des CGRP-Signalweges bei komorbiden Patientinnen bestätigen. Obwohl keine signifikanten Unterschiede in den absoluten CGRP-Spiegeln festgestellt wurden, zeigte sich, dass Frauen mit beiden Erkrankungen während der Menstruation einen Anstieg der CGRP-Konzentrationen aufwiesen, was auf eine besondere pathophysiologische Relevanz von CGRP bei komorbiden Patientinnen hinweist. Ein weiterer geschlechtsspezifischer Aspekt in der Behandlung von Frauen mit Migräne betrifft die Verwendung von hormonhaltigen Kontrazeptiva, die den Migräneverlauf beeinflussen können. Eine deutschlandweite Umfrage unter Gynäkolog:innen ergab, dass diese nahezu immer das Vorhandensein von Migräne vor einer Verschreibung von Kontrazeptiva berücksichtigen. Die Zurückhaltung bei der Verschreibung von östrogenhaltigen Kontrazeptiva bei Migräne mit Aura entspricht den gültigen Leitlinien. Angesichts der Tatsache, dass Gynäkolog:innen ebenfalls therapeutische Entscheidungen für Patientinnen mit Migräne treffen, betont diese Studie die Notwendigkeit einer guten Zusammenarbeit zwischen beiden Disziplinen. Veränderungen des hormonellen Zustandes während der Schwangerschaft können zu Änderungen von Kopfschmerzeigenschaften führen. Unsere klinische Datenerhebung zeigte, dass Migräne die häufigste Ursache für kopfschmerzbedingte Vorstellungen in der Rettungsstelle der Charité während der Schwangerschaft ist. Dennoch wurde bei über 40% der Patientinnen eine sekundäre Kopfschmerzursache diagnostiziert. Diese Ergebnisse unterstreichen die Notwendigkeit einer gründlichen Anamnese, klinischen und neurologischen Untersuchung sowie gegebenenfalls weiterer Diagnostik, um potenziell lebensbedrohliche Kopfschmerzursachen nicht zu übersehen. Abschließend konzentrierte sich eine prospektive Befragung auf die Wahrnehmung von stereotypen Migränebildern in den Medien. Die Ergebnisse zeigen, dass solche Bilder von Patient:innen mit Migräne und Mitarbeitenden im Gesundheitswesen als nur mäßig realistisch wahrgenommen werden. Insbesondere Bilder mit jungen Frauen wurden als am wenigsten realistisch empfunden, was die dringende Notwendigkeit einer Überarbeitung und Verbesserung solcher Darstellungen verdeutlicht.
Die vorgestellten Arbeiten tragen neue Erkenntnisse zu zahlreichen geschlechtsabhängigen Unterschieden in der Pathophysiologie, Diagnostik und gesellschaftlichen Wahrnehmung von Migräne bei. Sexualhormone sind entscheidend an der Migränepathophysiologie beteiligt, und künftige Arbeiten werden sich darauf konzentrieren, hormonabhängige entzündliche, vaskuläre und neuronale Prozesse der Migränepathophysiologie genauer zu charakterisieren. Die Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Aspekte im biopsychosozialen Modell der Migräne ist von herausragender Bedeutung, um dieses komplexe Krankheitsbild gründlicher zu verstehen und eine optimale Versorgung von Patient:innen aller Geschlechter in jeder Lebensphase zu gewährleisten.