Aus bisherigen Studien ist bekannt, dass die Chancen zur Qualifizierung bei Beschäftigten ungleich verteilt sind. Welche Rolle die Möglichkeiten zum Lernen im Prozess der Arbeit im Kontext von Industrie 4.0 bei Industriebeschäftigten spielen, ist bisher kaum erforscht. Zudem ist kaum erforscht, unter welchen Bedingungen Beschäftigte bereit sind, sich mit Digitalisierung auseinander zu setzen und welche Faktoren beim Lernen im Prozess der Arbeit zu Lernwiderständen führen. Diese Forschungslücken sollen mit dieser Dissertation geschlossen werden.
Im Rahmen der aktuellen Diskussionen über die Zukunft der Arbeit im Kontext von Industrie 4.0 untersucht die vorliegende Studie daher die folgenden Fragen: (1) Wie wirkt sich die Digitalisierung im Kontext der Industrie 4.0 auf die Qualifikationsanforderungen aus, d.h. welche Bedingungen tragen zum Upskilling und zum Deskilling von Beschäftigten bei? (2) Welche Bedingungen fördern die Lernbereitschaft von Industriebeschäftigten? 3) Wie verteilen sich die Chancen zur Qualifizierung nach Merkmalen der sozialen Stellung im Betrieb?
Zur Klärung dieser Fragen wurde ein qualitatives Forschungsdesign entwickelt, das einen Zugang zum Lernen im Prozess der Arbeit und zum Umsetzungsstand von Technik im Rahmen von Industrie 4.0-Ansätzen ermöglicht. Den Kern bilden vier arbeitssoziologische Fallstudien, die in deutschen Großbetrieben der Metall- und Elektroindustrie im Zeitraum 2017-2020 durchgeführt wurden. Das mehrstufige qualitative Forschungsdesign lässt umfassende Einblicke in die Tiefenstrukturen der Betriebe zu. Durch intensive Feldphasen konnten die Dynamiken der Technikeinführung, der Anpassung der Arbeitsorganisation und der Qualifizierung untersucht werden. Das ermöglicht eine Analyse der Mechanismen zu lernförderlichen und lernhinderlichen Faktoren aus Sicht der Beschäftigten. Die zentrale These dieser Arbeit lautet, dass es im Kontext von Industrie 4.0 zu einer Reproduktion sozialer Ungleichheit bezüglich der Chancen zum Lernen im Prozess der Arbeit kommt, die mit der Position im Betrieb, Alter und Beschäftigungsstatus, aber auch mit erwerbsbiografischen Faktoren zusammenhängen.
In theoretischer Hinsicht verbindet die Studie Erklärungsansätze aus bildungssoziologischer Forschung zur Ungleichheit und arbeitssoziologischen Studien zum subjektivierenden und objektivierenden Arbeitshandeln. Das Lernen im Prozess der Arbeit wird aus subjektiver Sicht verschiedener Beschäftigungsgruppen in Industriebetrieben rekonstruiert. Die Analyse knüpft an arbeitssoziologische Thesen zur Subjektivierung des Arbeitswissens an und greift zudem ältere Studien zur Objektivierung des Arbeitswissens auf. Um die Lernbereitschaft von Beschäftigten zu analysieren, wird das handlungstheoretische Konzept (Holzkamp, 1993) aus der schulischen Bildungsforschung in einen betrieblichen Rahmen übertragen. Die Analyse struktureller Arbeits- und Lernbedingungen knüpft das Konzept zur lernförderlichen Arbeit an. Die Kombination der Ansätze ermöglicht es, die Wechselwirkungen zwischen subjektiven Arbeitshandlungen und strukturellen Bedingungen in der Arbeitsorganisation einzubeziehen und bildet die Basis für eine Typologie, die den Zusammenhang von individueller Lernbereitschaft und strukturellen Lernbedingungen abbildet.
Die Befunde verdeutlichen, dass die Ursachen für ungleiche Bedingungen zum Lernen im Prozess der Arbeit in den strukturellen Bedingungen Industriebetrieben und weniger in der individuellen Lernbereitschaft liegen, wenn beispielsweise die formale Arbeitsorganisation zu einer Verengung der Handlungsspielräume der Beschäftigten führt oder die Arbeitsaufgaben der Beschäftigten nicht mit ihren Kompetenzen übereinstimmen. Weiterhin wirken sich fehlende Anreize zum Lernen, fehlende Lernzeiten und eine fehlende Mitsprache bei der Einführung neuer Technologien negativ auf die Möglichkeiten beim Lernen in der Arbeit aus. Das kann dazu führen, dass Beschäftigte nicht als sinnvoll erachten und sich Lernwiderstände verfestigen.
Die Befunde der Arbeit tragen zur Diskussion über die strukturellen Bedingungen zur Reproduktion sozialer Ungleichheit im Kontext der Digitalisierung bei. Aus den Befunden wurden Handlungsfelder für Gestaltungsansätze im Rahmen von "Gute Arbeit" entwickelt. Die Befunde tragen somit auch zur Entwicklung lernförderlicher Arbeit bei.