Seit der Frühen Neuzeit hat sich in den (deutschsprachigen) musikalischen Diskursen ein Topos herausgebildet, nämlich ein dichotomisches Denken, wonach Musik zwischen den Extremen gut und schlecht, schön und hässlich oder artifiziell und trivial verortet wird. Spezifisch für dieses Denken ist, dass es eine massive ethisch-moralische Dimension aufweist, die in der Frühen Neuzeit von der Theologie und in der beginnenden Moderne von bürgerlichen Moralvorstellungen beeinflusst ist. Unter ethisch-moralischen Aspekten trägt Musik danach zur allgemeinden Menschenbildung bei und wird im weitesten Sinne pädagogisch vereinnahmt. Eine Zuspitzung erfährt dieses Denken in den musik- und volkspädagogischen Praktiken und in den (kirchen-)musikalischen Restaurationsbewegungen der Romantik sowie in den dezidiert antimodernen Bestrebungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Dabei zeichnet sich eine Tendenz ab, die von den radikalen Protagonisten des musikalischen Konservatismus vertreten wird: Musik gilt als Medium von Bildung und Erziehung und der "Umgang mit Musik" ist Gegenstand von "musikalischen Verhaltenslehren", die in der musikalischen Praxis konkrete Auswirkungen zeigen sollten. Im ersten Kapitel der vorliegenden Arbeit wird die Entwicklung des dichotomischen Denkens von der Frühen Neuzeit bis zum beginnenden 20. Jahrhundert nachgezeichnet. Zentrales Untersuchungsobjekt sind nachfolgend die musikalischen Erneuerungsbewegungen in Deutschland: Jugendmusik-, Sing-, Orgel- und Kirchenmusikalische Erneuerungsbewegung, die das Konzept der konservativen Verhaltenslehren zwischen 1900 und 1945 in die Praxis umsetzen. Als solche exponieren sie sich gegen die Neue Musik und die Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts, deren Radikalität sie das gemäßigte Dispositiv der "Erneuerung" entgegensetzen. Ein Schwerpunkt der Untersuchung liegt dabei auf den Entstehungsursachen der musikalischen Erneuerungsbewegungen, die unter ethno-psychoanalytischen Aspekten analysiert werden. Erst aus dieser Perspektive wird verständlich, warum die Erneuerungsbewegungen, die sich nach 1933 als "deutsche Musikbewegung" verstanden, ihre eigentliche Wirkung im Dritten Reich entfalteten.