Den Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit bildet das künstlerische und kunsttheoretische Œuvre des bis heute wenig bekannten russischen Avantgardisten Ivan Kljun (1873–1943). Obwohl dieser Künstler eng mit Kazimir Malevič (1878–1935), Aleksandr Rodčenko (1891–1956), Ljubov’ Popova (1889–1924), Vladimir Tatlin (1885–1953), Ol’ga Rozanova (1886–1918) und Nadežda Udal’cova (1886–1961) ausstellte, Manifeste veröffentlichte und mit den erwähnten Künstlern im Institut für Künstlerische Kultur (INChUK) und in den Höheren Künstlerisch-Technischen Werkstätten (VChUTEMAS) zusammenarbeitete, gibt es kaum Veröffentlichungen und Untersuchungen zu den von Kljun hinterlassenen zahlreichen kunsttheoretischen Manuskripten, die viele wichtige Ereignisse und Diskurse in den Kreisen der russischen Avantgarde-Künstler in der Zeitspanne zwischen 1910 und 1935 beleuchten. Nur ein Teil dieser Schriften ist publiziert worden und das fast ausschließlich in russischer Sprache. Die in dieser Arbeit besprochenen Auszüge aus veröffentlichten, aber vor allem aus neu entdeckten, unveröffentlichten Manuskripten Kljuns machen seinen Beitrag zur Entwicklung der ungegenständlichen Kunst und einer Kunstwissenschaft in Russland Anfang der 1920er-Jahre evident. Die vorliegende Dissertation schließt eine Lücke in der bisherigen Forschung bezüglich der nahezu unbekannten Farbtheorie von Ivan Kljun. Zum ersten Mal werden hier Kljuns zum Teil immer noch unveröffentlichte theoretische Aufsätze zu den Grundelementen der Malerei wie Farbe, ihre Wirkung, zur Korrespondenz zwischen Farben und Formen, zu Faktur, Rhythmus, Licht und Fragen der Komposition untersucht und besprochen. Kljun ging es darum, die visuellen Phänomene aufzudecken, die in einem abstrakten Gemälde zum Vorschein kommen, und nicht um eine praktische Anleitung für Gewerbemaler oder Kunsthandwerker. In seinen zahlreichen Untersuchungen und theoretischen Ausführungen bewegte sich Kljun bewusst in Richtung der Wahrnehmungsforschung. Es stellte sich heraus, dass er eine Art Grammatik oder ein universelles Regelsystem für die abstrakte Malerei auszuarbeiten beabsichtigte. Dieses Regelsystem sollte eine theoretische Grundlage für die künstlerische Gestaltung bilden und zum Verständnis der modernen abstrakten Malerei aber auch der Werke Alter Meister verhelfen. Darüber hinaus fand zum ersten Mal die Rekonstruktion seiner erhaltenen Farb-Form-Tabellen statt, die der Künstler zusammenstellte, um seine Untersuchungen zur Korrespondenz zwischen Farben und Formen wissenschaftlich zu begründen. Die zahlreichen Regeln, nach denen Farben und Formen sich in einer Komposition verhalten, fasste der Künstler in seinem Heft „Komposition und Faktur“ zusammen, das in der vorliegenden Arbeit in seinem vollen Umfang erstmalig behandelt wird. Ein anderer wichtiger Beitrag der vorliegenden Arbeit ist die Analyse des künstlerischen Werkes Kljuns unter Einbeziehung seiner kunsttheoretischen Ausführungen, die bislang in der Fachliteratur ausblieb. Ausgewählte künstlerische Werke Kljuns werden hier im Kontext seines umfassenden theoretischen Œuvres zum ersten Mal vorgestellt und besprochen. Bis heute stand eine Vergleichsanalyse von Kljuns Ideen und theoretischen Ausführungen mit denen von Vasilij Kandinskij und anderen Kollegen und Freunden wie Kazimir Malevič, Michail Matjušin und Ljubov’ Popova aus. Diese Zusammenhänge wurden hier samt den Diskursen zu den Grundelementen der Malerei im künstlerischen Umfeld der erwähnten Künstler beleuchtet. Kljuns Vorhaben, eine für Künstler brauchbare Malgrammatik zu erarbeiten, war mit Sicherheit ein bei Kandinskij entlehnter Gedanke, dessen Verwirklichung Kljun aber eigenständig verfolgte. Verankert in der Tradition der von Kandinskij entwickelten Programme für das Institut für Künstlerische Kultur (INChUK) und die Russische Akademie der Kunstwissenschaften (RAChN), strebte Kljun die Entwicklung objektiver Untersuchungsmethoden für die Werke der Kunst an, mit deren Hilfe die subjektive Beurteilung der künstlerischen Mittel durch die Probanden objektiv untersucht und gedeutet werden konnten. Er stellte seine eigenen Theorien auf und untermauerte sie anhand unterschiedlicher wissenschaftlicher Abhandlungen zur Farbenlehre sowie experimentell. Die vorliegende Arbeit veranschaulicht welche Theorien Kljun in Bezug auf gestalterische Elemente aufstellte und praktisch umsetzte, welche Quellen er dabei verwendete, wie stark er im unter den russischen Avantgardisten verbreiteten Topos der Erneuerung der Kunst verankert war und mit welchen Neuerungen und einzigartigen Ideen er die Kunst bereicherte.
This dissertation focuses on works of art and theoretical writings of the lesser-known Russian avant-gardist Ivan Kliun (1873–1943). Kliun exhibited his work and published manifestos with such renowned avant-garde artists as Kazimir Malevich (1878–1935), Alexander Rodchenko (1891–1956), Liubov’ Popova (1889–1924), Vladimir Tatlin (1885–1953), Olga Rozanova (1886–1918), and Nadezhda Udaltsova (1886–1961). Even though Kliun worked in the Institute of Artistic Culture (INKhUK) and the Higher State Art-Technical Studios (VKhUTEMAS) together with Wassily Kandinsky (1866–1944) and all of the afore mentioned artists, many of his theoretical writings have been neither examined nor published. Only a fraction of Kliun’s manuscripts have been published and mostly in Russian. His numerous manuscripts on art theory and autobiographical notes shed light on relevant events and discourses on non-objective art among Russian avant-gardists in the period between 1910 and 1935. The numerous excerpts from Kliun’s manuscripts investigated in this dissertation reveal his contribution to the development of non-objective art and the science of art in the 1920s in Russia. This dissertation closes a gap in previous research on Ivan Kliun’s nearly unknown color theory. Here, for the first time, Kliun’s art theory essays on the primary elements of painting like color and its effect, on the interaction between colors and forms, on texture, rhythm, and light, and on questions of composition are investigated and discussed. Kliun aimed to uncover the visual phenomena that appear in an abstract painting instead of creating a practical guide for graphic designers or craftspeople. In his numerous investigations and theoretical analyses, Kliun deliberately moved towards research of perception. It turned out that he intended to create a kind of grammar or universal system of rules for abstract painting. This system was meant to serve as a theoretical base for artistic composition and to help understand both modern abstract painting and works of the old masters. Furthermore, Kliun’s preserved color-form-tables have been reconstructed. The artist composed these tables to ground his studies on the interaction between color and form scientifically. He summarized the large number of rules on how colors and forms interact within a composition in his manuscript “Composition and texture,” which is discussed in its entirety in this thesis for the first time. Another important contribution that has been neglected in academic literature so far is the analysis of Kliun’s artistic works, specifically graphics, watercolors, paintings, and sculptures, in relation to his manuscripts on art theory. Some of Kliun’s selected artworks have been presented and examined here for the first time within the context of his numerous theoretical manuscripts. Until now, a comparative analysis of Kliun’s ideas and theoretical statements with those of Wassily Kandinsky and other colleagues like Kazimir Malevich, Liubov’ Popova, and Mikhail Matiushin (1861–1934) had never been performed. This thesis examines such relations, including the discourses on the primary elements of painting in the artistic world of the artists mentioned. Kliun’s plan to develop a useful grammar of painting for artists is certainly an idea borrowed from Kandinsky, although Kliun went about pursuing this plan independently. Rooted in the tradition of Kandinsky’s programs developed for INKhUK and the Academy of Artistic Sciences (RAKhN), Kliun strove to develop objective methods of artistic analysis with which test persons would be able to objectively investigate and interpret the subjective assessment of artistic means. He crafted his own theories and underpinned them with scientific treatises on color theory and with experiments. This dissertation sheds light on those theories related to the primary elements of painting that Kliun created and implemented in practice, which sources he used in the process, how strongly rooted he was in the topos of art’s renewal (which was widely embraced by the Russian avant-garde), and with which new and innovative ideas he enriched non-objective art.