dc.description.abstract
Aus anthropologisch-psychiatrischer Perspektive thematisiert unser Beitrag die
Formierung transkultureller Emotionsrepertoires in den Lebensentwürfen
vietnamesischer Migrant_innen der ersten Generation in Berlin. Konkret gilt
unser empirisches Interesse den affektiven Anstrengungen von Migration, die
sich im Leben von vietnamesischen Patient_innen abzeichnen, die psychiatrisch-
psychotherapeutische Hilfe in Anspruch nehmen, sowie von deren Angehörigen.
Zum einen möchten wir der Frage nachgehen, wann genau affektive
Krisenerfahrungen zu Belastungen werden, die auf Basis bisheriger
Emotionsrepertoires nicht länger zu bewältigen sind und zu einer
Inanspruchnahme psychiatrisch-psychotherapeutischer Hilfe führen. Zum anderen
möchten wir Antworten auf die Frage geben, inwiefern diese Inanspruchnahme zu
einer Herausbildung neuer und dezidiert transkultureller Emotionsrepertoires
beiträgt, die Beheimatungsprozesse begünstigen können, welche in neue und
multiple Zugehörigkeiten und/oder Nichtzugehörigkeiten münden (Pfaff-Czarnecka
2012, Scheer 2014, Lähdesmäki et al. 2016, Röttger-Rössler 2016). Die Relevanz
der letzteren Frage spiegelt sich in der zunehmenden Akzeptanz vietnamesisch-
sprachiger und transkulturell sensibler psychiatrischer Versorgungsan-gebote
im Rahmen der Eröffnung zweier Spezialambulanzen in Berlin wider (Ta et al.
2015,Hahn et al. 2016). Diese Versorgungsangebote sind eingebettet in ein
aktives Netzwerk, welches die Förderung der seelischen Gesundheit von
vietnamesischen Migrant_innen in Deutschland dient und dabei Träger sozialer
Hilfen miteinander in Beziehung setzt und auch transnationale psychiatrische
Perspektiven miteinbezieht (Ta et al. 2016b). Aus unseren ethnographischen
Begegnungen, Beobachtungen und Gesprächen geht hervor, dass das erwähnte
Setting in den Spezialambulanzen für unsere Gesprächspartner_innen einen
einzigartigen Artikulationsraum darstellt, in dem in bislang ungewohnter Weise
und jenseits von Stigmatisierungsängsten über affektive Erfahrungen,
Anstrengungen und Belastungen gesprochen werden kann. Wer sich in Vietnam in
psychiatrische Behandlung begebe oder in eine psychiatrische Klinik
„eingewiesen“ werde, habe es laut unserer Gesprächspartner_innen nicht nur in
Bezug auf die Qualität der Versorgung schlechter als in Deutschland:
Der-/diejenige werde schnell als điên bezeichnet und müsse mit Diskriminierung
und Stigmatisierung in Form eines Gesichtsverlusts rechnen, der sich auch auf
das familiäre Umfeld ausweite. Das Wort điên bedeute „verrückt sein“,
umgangssprachlich steht es für den medizinischen Ausdruck „an einer
psychischen Krankheit leiden“ (bị bệnh tâm thần). Jedoch birgt es durchweg
negative Konnotationen in sich, da Menschen, die als điên bezeichnet werden,
nicht länger ernst genom-men und aus ihrem sozialen Umfeld ausgegrenzt würden.
Affektive Belastungen werden aus diesem Grund häufig verdeckt, um einerseits
nicht gegen die Gebote der Wahrung sozialer Harmonie zu verstoßen und
andererseits, um eine individuelle und familiäre Stigmatisierung zu vermeiden
(Lauber & Rössler 2007, Machleidt 2013). Selbstverständlich gibt es auch in
Vietnam vielfältige Bewältigungsstrategien. In Migrationserfahrungen fußende
affektive Belastungen beinhalten unserer Meinung nach aber andere
Herausforderungen, welche die vertrauten Strategien in dem veränderten
sozialen, politischen und wirtschaftlichen Kontext oftmals an ihre Grenzen
stoßen lassen. Im Folgenden erläutern wir zunächst, inwiefern wir Affekte von
Emotionen im Kontext von Migration konzeptuell unterscheiden und was unter
einem transkulturellen Emotionsrepertoire zu verstehen ist. Des Weiteren wird
die psychiatrische Ambulanz als ein besonderer Artikulationsraum des
Affektiven vorgestellt, sowie auch als Forschungsraum unseres
interdisziplinären Projektes. Sodann gewähren wir Einblicke in die
Lebensentwürfe von zwei Gesprächspartnern, die beide der ersten Generation
vietnamesischer Migrant_innen angehören. Um auch eine transgenerationale Sicht
auf Affekte und Emotionen in der Migration zu ermöglichen, beschließen wir
unseren empirischen Teil mit einer Beschreibung der Ansichten einer
Gesprächspartnerin der zweiten Generation, deren Mutter in psychiatrisch-
psychotherapeutischer Be-handlung ist. Unser Beitrag endet mit einer
Diskussion, in der wir gängigen Vorstellungen widersprechen, die die
Inanspruchnahme psychiatrisch-psychotherapeutischer Hilfe als ein Zeichen von
Hilflosigkeit werten und insbesondere Patient_innen mit migrationsbezogenem
Hintergrund Handlungsmacht und Kompetenz absprechen (Pratt Ewing 2005,
Kirmayer 2007).
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