Die Menschenwürde-Idee und der Liberalismus überwölben und durchdringen jeweils zwei große Geistes- und Verfassungskulturen. Aber sie verstehen einander kaum. Der vor allem angloamerikanische Liberalismus ist mit dem pragmatischen Vorgehen und dem emotionalen Machtdenken verbunden. Die Idee von der Menschenwürde entstammt dagegen einer vorwiegend deutschen philosophischen Tradition. Als solche idealisiert sie den Menschen und begreift ihn als "geistig-sittliches" Wesen. Das praktischen Beispiel der Todesstrafe und die denkbaren Gründe dafür helfen dabei, die Unterschiede aufzeigen. Aber ein überzeugter Pragmatiker, der sich als Liberaler von allen Zwängen, auch solchen einer ihn verpflichtenden Moral, befreit wissen will, der wird sich auch gedanklich keinen Folgerungen unterwerfen wollen oder können, die aus einem Dogma, wie der Menschenwürde-Idee herleiten lassen. Auch eine Grundrechtecharta, wie die kontinentaleuropäische der Europäischen Union, die ein geschlossenes System von Grundrechten erhält und die zu Beginn gleich die Achtung der unantastbaren Menschenwürde einfordert, erscheint dem Liberalen als fremd. "We, the people" sehe sich auch offenbar davon befreit. Moral erweist sich wie die Religion als Gegenstand der freien Entscheidung und wird vor allem in den Kommunen gelebt. Aber gemeinsam ist diesen beiden weltlichen Letztbegründungen ihr geistiges Erbe. Der anthropologische Kulturalismus erlaubt es zudem, beide säkularen Glaubensrichtungen zusammen betrachten. Die nachfolgenden Erwägungen stellen eine Vorveröffentlichung dar. Sie geben im Wesentlichen das neu gefassten 7. Kapitels des dritten Buches der kleinen Schriftenreihe zum Thema „Zivilreligion“ wieder. Zugleich habe ich einige erläuternde Textteile eingeflochten, die ich ebenfalls aus der neuen Einleitung zu dieser Schrift herausgezogen habe. Manches habe ich leicht abgeändert. Alles um zu versuchen, diesem, wie ich meine wichtigen, Thema als solchem gerecht zu werden. Dabei gilt es beides zu verdeutlichen, das Gemeinsame und das Trennende zweier großer westlicher Leit- und Rechtsideen.