Wilhelm von Humboldt, dem Klassiker der Sprachphilosophie, wird selbst keine exzellente Sprache bescheinigt. Zudem wird ihm ein Mangel an durchgehender Terminologie diagnostiziert. Das mag erklären, dass es außer zu den Termini "energeia" und "innere Sprachform" bisher keine explizite Begriffsstudie zu seinem Werk gibt. Dadurch fehlt allerdings auch eine wissenschaftliche Klärung dieses angeblichen Mangels. Vorliegende Studie will diese Lücke schließen. Ein Novum ist, dass darin versucht wird, auf der Ebene von Werkschichten zu argumentieren. Dabei wird gezeigt, dass sich Humboldt allererst eine Terminologie zu erarbeiten hatte und seine vorsichtige, um Details kreisende Vorgehensweise durchaus Methode hat und dem daraus resultierenden Sprachstil durchaus etwas abgewonnen werden kann. Vieles spricht dafür, seinen Begriff "Sprachsinn" für eine genaue Studie auszuwählen: Er taucht mit steigender Häufigkeit in den sprachphilosophischen Schriften Humboldts an zentraler Stelle auf, und Humboldt definiert ihn zweimal. Dabei grenzt er ihn einerseits gegen den Begriff "Einbildungskraft" ab, dessen Klärung die Tradition verdeutlicht, in der Humboldt steht. Andrerseits setzt er ihn mit dem Laut in Beziehung und betont damit wie kaum einer vor ihm den medialen Aspekt der Sprache. Nach ihm wird die Entwicklung des Sprachsinns durch das Medium der Schrift, insbesondere der Lautschrift, nicht nur »wohltätig unterstützt«, sondern vollendet. Am meisten spricht die Tatsache für die Untersuchung gerade dieses Begriffes, dass er - im Unterschied zu dem von Aristoteles herrührenden Begriff "energeia" - von Humboldt selbst stammt. Ein Begriff, der es verdient, bekannter zu werden, da er auch für das Verständnis der neuen Medien fruchtbar gemacht werden kann. Das erweist der Schlussteil, in dem seine Aktualisierbarkeit in systematischer Hinsicht diskutiert wird. Dort wird er auch mit den anderen Begriffen, in den Humboldt seine Sprachauffassung darstellt, enggeführt: Humboldt definiert den Sprachsinn als "geistiges Vermögen, bezogen auf die Bildung und den Gebrauch der Sprache". Als solches bedarf er des Lauts, um "den Gedanken zum Ausdruck fähig zu machen". Humboldt denkt dabei transzendental wie historisch auf der Ebene der Entwicklung von Nationalsprachen. Die Verbindung mit dem Gespräch, Humboldts Urtypus der Sprache, besteht im hermeneutischen Zirkel, den Humboldt avant la lettre kennt und nutzt: Sprache geschieht nur im jedesmaligen Sprechen von Individuen, das hießt "im Werk seiend" (en-ergeia). Sie verstehen sich aber selbst wie den Anderen nur im Horizont einer gemeinsam benutzten Sprache. Dabei geht es nicht nur um Gedankenaustausch, sondern auch darum, Gedanken allererst zu gewinnen. Der Sprachsinn gründet im Noch-nicht-Artikulierten, sprich Schweigen. Daher werden in Rückgriff auf Humboldts Hermeneutik abschließend vier Aspekte einer Sigetik entwickelt. Dabei erweist sich, dass sich seine Hermeneutik auch sinnvoll als Ethik verstehen lässt.
Wilhelm von Humboldt is the classic philosopher of language, but no one attests to him an excellent use of language and his writings have been diagnosed as lacking in consistent terminology. This might explain why no one has ever set out to explicitly investigate the concepts he used (the only exceptions being the terms "energeia"and "inner form of language", or "innere Sprachform"), or made a critical attempt to clarify this alleged deficiency. The study at hand aims to do just this. For one, it argues on the level of the "layers of his work", showing that Humboldt�s initial task was to work out some kind of terminology and that his cautious, probing way of circling around details did indeed constitute a method which bore fruit. Humboldt's concept of "linguistic sense" ("Sprachsinn") certainly merits attention. It appears with increasing frequency in his writings on the philosophy of language. Humboldt defines it twice, tellingly distinguishing it from the concept of "imagination" ("Einbildungskraft"). He also places the concept in relation to sounds, underscoring in an unprecedented way the medial aspect of language. According to Humboldt, the development of "linguistic sense" is not only "charitably promoted", but rather perfected by the medium of the written word, in particular by phonetic spelling. What warrants an investigation of this concept, for one, is the fact that it was coined by Humboldt himself - as opposed to the concept "energeia", which derives from Aristoteles. By gaining an understanding of it we can also gain a better understanding of the new media. The investigation drives this point home, placing the concept in a modern, systematic framework and juxtaposing it with other concepts used by Humboldt to formulate his idea of language. For Humboldt, "linguistic sense" is "intellect as it relates to the formation and use of language". As such it must produce sounds in order to "make thoughts expressible". Transcendentally and historically speaking, Humboldt argues on the level of the development of national languages when he formulates this definition. The connection with conversation - for him language in its original form - consists in the hermeneutic circle, which Humboldt knows and uses avant la lettre. Language occurs solely in individual acts of speaking, i.e. in the state of "being at work" (en-ergeia). Yet we only understand ourselves and others within the horizon of a mutually used language. This involves more than an exchange of ideas; it concerns the very formation of ideas. "Linguistic sense" originates in what has not yet been articulated, i.e. in silence. In light of this view, the investigation develops four aspects of sigetics, which are placed within the framework of Humboldt's hermeneutics. These are ultimately seen as being invested with an ethical dimension.